Klassenkampf statt Ernährungsende - Sozialprotest läßt sich nicht schwärzen

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Heute haben sich 200 bis 250 Kiezbewohner*Innen und solidarische Unterstützer*Innen in Kreuzberg an der Kundgebung “Kiezmarkhalle statt Luxus-Food-Halle” beteiligt. Das sind kaum weniger als beim ersten Protest am 30. März 2019. Damit ist die Taktik der Markthallenbetreiber gescheitert, dem Protest durch Pseudodialoge und Scheinzugeständnisse, wie z.B. einem vorübergehenden Zwischenmietvertrag für Aldi, über den Sommer den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Was als kleiner, alltäglicher Kampf über ökonomische bzw. soziale Fragen begonnen hat – hier konkret die Versorgung der Nachbarschaft mit bezahlbaren Lebensmitteln – hat sich mittlerweile zu einem Politikum ersten Ranges gemausert. Ausdruck dafür ist das seit Monaten anhaltende Medieninteresse, dass durch Anwesenheit zahlreicher Reporter*Innen bei der Kundgebung erneut bestätigt wurde. Ausdruck davon sind auch die verhärteten Fronten in dem Konflikt. Während die Ökokapitalist*Innen und ihre politischen Vertreter bei den Grünen die “Markthalle IX” inzwischen als Herzstück ihrer angestrebten “Ernährungswende” in Berlin auf Teufel komm raus pushen, formiert sich breiter Widerstand. Linke und SPD haben ihr soziales Herz wiederentdeckt und beteiligen sich auf Bezirksebene am Protest, während sie im Berliner Senat zusammen mit den Grünen regieren.

Jenseits dieser Niederungen bürgerlichen Politik gilt es festzuhalten, dass Sozialproteste von unten überall in Berlin zunehmen. Ob es das Megathema Mieten ist oder spezifische Probleme wie die Markthalle, überall geht es letztlich um grundsätzliche Fragen. In einem Redebeitrag des Solidaritätsnetzwerks Berlin haben wir diese herausgearbeitet, auch um der Demagogie der Gegenseite und der weitverbreiteten Verwirrung, wieso “Linke für Aldi kämpfen” den richtigen Klassenstandpunkt entgegen zu stellen.

Nachfolgend dokumentieren wir die Rede, die zur besseren Lesbarkeit mit Zwischenüberschriften unterteilt wurde.

 

Im Namen des Solidaritätsnetzwerks Berlin begrüße ich euch ganz herzlich auf der Kundgebung ‘Kiezmarkhalle statt Luxus-Food-Halle’. Das Solinetz ist ein Zusammenschluss von Menschen, die von unten für soziale Veränderungen kämpfen.

 

Was ist los in Kreuzberg?

Ich selbst wohne seit über 25 Jahren hier im Kiez. Was ist los in Kreuzberg? Viele Bekannte und Freunde haben mir in den letzten Monaten diese Frage gestellt. AnwohnerInnen kämpfen unterstützt von der linken Szene für den Handelsmonopolisten ALDI? Turgut Altug, Grüner Abgeordneter für Kreuzberg, fälscht mit schwarzem Edding Fotos auf Facebook, um die unerwünschte Realität unseres Protests zu verstecken?

{siehe dokumentiertes Foto oben, dass Turgut Altug auf seiner facebook Seite am 5.9.2019 über seine Werbeaktion am Vortag vor der Markthalle veröffentlichte; geschwärzt wurde ein Plakat zur Protestkundgebung am 14.09 gegen die Luxus-Food-Halle}

Ich könnte noch viele weitere Beispiele anführen. Der Konflikt um die Markthalle IX verwirrt viele, da gewohnte Schablonen scheinbar nicht darauf passen. Dabei ist die Auseinandersetzung gar nicht so kompliziert. Sie lässt sich in einer Parole zusammenfassen:

Essen ist politisch!

Ernährungsgerechtigkeit oder Ernährungswende?

Unter dem Motto ‘Essen ist politisch’ gehen seit 2011 jedes Jahr Zehntausende in Berlin für nachhaltig produzierte und gesündere Lebensmittel auf die Straße. Einige DemonstrantInnen besuchen dabei auch die Markthalle.

Sie wird zunehmend zum symbolisch aufgeladenen Ort der ‘Ernährungswende’. Auch der Grüne Senator für Verbraucherschutz, Dirk Behrend, hat diese Woche bei einer Veranstaltung der Grünen Friedrich-Kreuzberg nochmals klar gemacht, dass er auf Seiten der Markthallenbetreiber steht. Die Markthalle IX soll zum Vorzeigeprojekt der Berliner Grünen und ihrer angestrebten Ernährungswende werden. Unter anderem ist sie weiterhin als Standort für ein sogenanntes House of Food im Gespräch. Wird dieses Ausbildungsprojekt für Kantinenköche umgesetzt, wäre die Markthalle IX als Markt zu günstigen Versorgung der Kiezbevölkerung endgültig erledigt.

Essen ist politisch!

Essen ist politisch – natürlich trifft dieser Slogan der Öko-Bewegung zu. Aber nicht so, wie sich das neureiche grüne KapitalistInnen und ihre politischen Vertreter im Senat vorstellen.

Brot und Frieden waren die zentralen Forderungen, die vor 100 Jahren der kommunistischen Oktoberrevolution in Russland den Weg gebahnt haben. Ohne die Brotstreiks im April 1917 in Berlin, hätte sich im November 1918 nicht die Demokratie in Deutschland durchgesetzt.

Bis heute hat sich daran wenig geändert. Die Frage der Nahrungsmittel hat nach der globalen Wirtschaftkrise 2008/2009 viele Sozialproteste ausgelöst. In zahlreichen Ländern entstanden Massenbewegungen, die Diktatoren und Regierungen hinwegfegten.

Ob 2019 im Sudan, in Algerien, Puerto Rico oder eben auch hier in Kreuzberg bei der Markthalle, vielfach geht es beim Essen um die grundlegende Ernährungsgerechtigkeit. Das ist eine soziale Frage, bei der sich Klassenunterschiede auftun.

Kein Hartz IV Empfänger holt sich einen Döner, der aus Abfall zusammengemanscht wird, weil ihm hochwertiges Fleisch von `Kumpel und Keule´ für 70 Euro das Kilo nicht schmecken würde. Er kann sich den Einkauf dort schlichtweg nicht leisten.

Für die neureiche Elite sind Multi-Kulti und Öko Ausdruck eines Lebenstils, mit dem sie sich von “denen da unten” – also uns – abgrenzen. Sie geben uns dann wohlfeile Empfehlungen – zu viel Fleisch ist ungesund, wir sollen mehr Gemüse essen.

Das erinnert an Marie Antoinette. Die französische Köngin war so abgehoben vom einfachen Volk, wie es die herrschende Elite heutezutage wieder ist. Auf die Warnung ihrer Berater, dass Volk sei unzufrieden über die Ernährung, antwortete sie:

Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen!

Kurz darauf brach die französische Revolution aus und Marie Antoinette’s Karriere endete unter der Guillotine.

Gelbwesten in Deutschland

Die Franzosen haben starke politische Symbole und so wurde die Guillotine ein mächtiges Motiv der Gelbwestenbewegung. Sie hat die Stimme der einfachen Leute gegen die abgehobene Arroganz des elitären Präsidenten Marcron zur Geltung gebracht. Eine solche soziale Widerstandsbewegung von unten brauchen wir auch in Deutschland.

Bezahlbare Stadt und Faschisierung

Bei der Markthalle IX geht es vordergründig um die Frage, dass wir als AnwohnerInnen eine bezahlbare Stadt für Alle und günstige Lebensmittel für die Kiezbevölkerung wollen.

Aber politisch geht es noch um viel grundlegendere Fragen: In welche Richtung entwickelt sich die Gesellschaft?

Wollen wir weiter den Bauernfängern auf den Leim gehen und uns davon verunsichern lassen, dass man doch nicht für ALDI sein kann? Lassen wir uns weiter spalten und in die Irre führen?

Wollen wir uns weiter in eine unsinnige Frontstellung drängen lassen:

Auf der einen Seite die kosmopolitischen Eliten, modern, hip, ökologisch, demokratisch, queer usw. Am Ende sind sie doch nur ein Teil der herrschenden Klasse und darauf bedacht, ihren Vorteil auf unsere Kosten zu mehren.

Auf der anderen Seite die Faschisten als vorgebliche Vertreter der kleinen Leute. Sie machen heute auf sozial und Systemopposition. Gleichzeitig besorgt ihr bewaffneter Arm wie `Nordkreuz´ schon Leichensäcke und Ätzkalk, um die Feindlisten, auf denen auch viele von uns stehen, abzuarbeiten.

Wir sollen also zwischen Pest – grüner Kapitalismus – und Cholera – brauner Faschismus – wählen. Das machen wir nicht mit!

Es geht weder um Lebensstile – Veganer gegen Fleischfresser – noch um einen angeblichen Kampf der Kulturen – christliches Abendland gegen Islam. Das alles sind falsche Alternativen, die uns spalten und gegeneinander aufhetzen sollen.

Bauen wir eine solidarische und starke Klassenbewegung auf, die den falschen Alternativen die richtige Lösung entgegenstellt.

  • Ernährungsgerechtigkeit heißt nicht, dass die einen Ökohäppchen schlemmen und die anderen hungern!
  • Die Markthalle IX muss als Kiezmarkthalle erhalten bleiben!
  • Bezahlbare Lebensmittel für Alle!

 

 

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